Von: Lothar Rehse, Jörg Bichler, Marcus Hufnagl und Martina Eigelsreiter

Die Statements der von uns Befragten Mitbürger*innen zum Thema „Sichtbarkeit“ können Sie in diesem Beitrag nachlesen – unseren Artikel im KulturJOURNAL#2, sowie das gesamte Magazin, finden Sie hier.

Lothar Rehse:

– aktiver Mitbürger, Vater und Gestalter von Entwicklungsräumen aus der Region z.B.: www.Burg2025.at

Wer ist die Region? Wer ist gemeinsam?

Eine Hauptstadt ist per Definition das Zentrum einer bestimmten Region (www.politik-lexikon.at). Eine Region beschreibt danach ein Gebiet, in dem Menschen leben, die eine gemeinsame Kultur teilen. Unter Kultur wird der gemeinsame Umgang mit Problemen (und Aufgaben) verstanden, Hofstede (1982) nennt das ‚Software of the mind’. In seinem Zwiebelschalenmodell liefert er einen leicht verstehbares Bild (natürlich wurde dies immer wieder sehr kontrovers diskutiert – aber es hilft für ein erstes Verständnis): Demnach befinden sich sehr versteckt im Kern der Zwiebel unsere Normen und Werte, sehr gut versteckt durch mehrere Schichten, die Hofstede als Praktiken bezeichnet: die Rituale zuerst, dann die Helden und in der äußeren, leicht sichtbaren Schicht die Symbole (Hofstede 1997).

Der Gründungsmythos der EU kann kurz als „nie wieder Auschwitz“ beschrieben werden (z.B.: Menasse 2017). Der Autor beschreibt darin sehr schön die derzeitige Krise, die er eindeutig nicht in Brüssel gefunden hat („sämtliche Klischees sind in der Realität durch das Gegenteil widerlegt worden“ – (www.profil.at vom 7.9.2017) sondern in den Mitgliedsstaaten. Ziel der Union ist die Förderung der europäischen Integration auf Basis der gemeinsamen Werte, ebenso wie die Bildung einer europäischen Identität (www.esf.rlp.de – Die europäische Union als Wertegemeinschaft). Und die Werte finden sich sehr deutlich ausgeführt in Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (https://dejure.org/gesetze/EU/2.html: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören). Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Die gemeinsamen Werte der EU sind nur dann lebbar, wenn sie auf einem Fundament an Werten der einzelnen Länder gründen. Andererseits geben die gemeinsamen Werte Orientierung und Sicherheit zur Erhaltung des Wertefundaments in den Ländern – die beiden Werteebenen bedingen sich gegenseitig!

Beide Ansätze können im System ‚St. Pölten und seine Region’ erst auf Umwegen zusammengedacht werden: St. Pölten wurde zwar zur Hauptstadt Niederösterreichs gewählt und beherbergt die Landesregierung. Aber St. Pölten ist derzeit kein Zentrum einer auf den ersten Blick identifizierbaren Region – in Niederösterreich gibt es 4 Vierteln mit eigenen Zentren, St. Pölten ist derzeit für keines davon identitätsstiftend (wenn es denn überhaupt zu einer Region gehört). Aber auch die Region (vielleicht die 24 km um St. Pölten herum) findet in der Stadt nicht wirklich die Praktiken (Symbole, Geschichten über eindeutige Helden etc.), die für die Menschen eine Bedeutung haben. Aber die Region bzw. die Menschen in der Region haben einen starken Bedarf nach identitätsstiftenden Merkmalen – es ist langfristig wenig zielführend, als „Region westlich von Wien“ gesehen zu werden.

Der Bewerbungsprozess zur Kulturhauptstadt St. Pölten 2024 bietet die Möglichkeit, ein regionales Zentrum „Mitten in Europa“ zu entwickeln! Die gemeinsamen Geschichten dazu, die wir alle erzählen wollen, müssen bzw. können offensichtlich nicht aus historischen Belangen abgeleitet werden. Weder aus denen der Stadt noch aus denen der Region. Wir müssen diese in St. Pölten neu gestalten – natürlich unter Einbindung der Menschen auch aus der Region. Und natürlich auch in Austauschbeziehungen jeder Art. Aber der Kern wird das sichtbare Zentrum sein – ob als Kreuzungspunkt eines allein farblich auffälligen „Schnelltradwegenetzes“ oder als Kern eines Eisenbahnnetzes, das die Region mit dem Zentrum verbindet (statt abschneidet) oder ein Netz an Installationen, die die gesamte Region mit einer intelligenten Slow-Light-Beleuchtung inszeniert … oder als Ausgangspunkt intelligenter Architektur, die den Menschen in den Mittelpunkt bringt statt der Rendite der Investoren, die Energie erzeugt statt verbraucht, die Verkehr ersetzt statt erzeugt.

Vielleicht schaffen wir es in St. Pölten, Symbole und Geschichten für eine intelligente Zukunftsplanung zu entwickeln – identitätsstiftend für die Region und integrationsfördernd für Europa! Das hätte sicher auch in der Region Solidaritätspotential!

„Wir können nur sicher sein, dass wir nicht sicher sein können, ob irgendetwas von dem, was wir als vergangen erinnern, in der Zukunft so bleiben wird, wie es war. Aber das ist nicht alles, wir wissen außerdem, dass viel von dem, was in zukünftiger Gegenwart der Fall sein wird, von Entscheidungen abhängt, die wir jetzt zu treffen haben.“
Niklas Luhmann

Jörg Bichler:

Wer wählt beim romantischen Spazierengang durch den Wald eigentlich einen, in dem an allen Ecken und Enden die Bäume geschlagen sind? Mir geht’s da ums Idyll, ums wohlfühlen. Es wäre nicht rund, ich würde sicher kaum in die richtige Stimmung kommen. Und so fühlt es sich für mich auch an, wenn im Stadtzentrum Geschäftslokale leerstehen.
Ob nun als Langzeitlösung oder als Zwischennutzung wird es für St.Pölten absolut unabdingbar, die Leerstände kulturell zu bespielen um die Innenstadt mit Leben und Bewegung zu bereichern! Hier ist der Bürgermeister direkt gefordert zu intervenieren, ich höre seit 2 Jahren dieselben Antworten diverser Vermieter etc! „Es ist billiger, es leerstehen zu lassen, tut uns leid“, „wenn es leersteht kann man es von der Steuer anders absetzten“ „wir haben schon Interessenten“ (die bis heute nicht eingezogen sind) USW USW USW. Was stimmt und was nicht, weiss ich nicht! Ich gehe, mit einem leisen „Fuck Off“ und meinen Konzepten mit diversen Ausstellungideen unterm Arm!
Jetzt 2018, mit der Kulturhauptstadt im Rücken, gebe ich die Keilerei an die Politik ab. Die Parteien sind gefordert die Innenstadt aufblühen zu lassen, Vermieter die Daumenschrauben anzulegen! Dem KHS Büro, mit dem direkten Kontakt zur Basis via Verein Kulturhauptstart, kann es nicht an Alternativen mangeln, diverse Kulturschaffende zu finden die Räumlichkeiten gern bespielen und die Stadt mit Qualität und Farbe zu füllen! Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leerstände dem Bürgermeister gefallen oder sonst jemanden. DAS IST KEIN WÜRDIGES BILD EINER KULTURHAUPTSTADT IN MANCHEN BEREICHEN DER STADT!
Auch wenn die Plattform 2020 gute Arbeit in sachen Innenstadtbelebung leistet, fehlt einer Wirtschaftsplattform doch letztendlich der notwendige Spirit, mehr zu schaffen als eben „gute Arbeit“. Für „Geist“ ist eine Wirtschaftsplattform nicht zuständig! Das ist auch nicht ihre Arbeit!
Dafür hat man die Herzblut Arbeiter! Die, die nicht auf die Uhr sehen und mit dem Taschenrechner abgleichen!

Marcus Hufnagl

– lebt und arbeitet in St. Pölten, als Kunstpädagoge, Bildender Künstler, Grafiker, Musiker, Kulturveranstalter;

Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt bringt eine gewaltige Diskussionen in Gange, die in ihrer gegenwärtigen Intensität, Qualität und Offenheit noch nie in St. Pölten geführt wurde.

Nach und nach entsteht in der Bevölkerung das erfreuliche Bewusstsein für die Wichtigkeit kultureller Themenbereiche, welche bislang nur wenige Beachtung fanden und nicht im öffentlichen Interesse standen.

Mehr und mehr Einwohner der Stadt sowie der Region des Umlandes sind Willens, sich von einer „des-Passt-scho-“ oder „schau-ma-amoi-Mentatiltät“ Schritt für Schritt zu lösen, zeigen Interesse in Gesprächen, sind im positiven Sinne „unzufrieden“, werden eventuell auch Teil von konkreten „Aktionen“ und tragen dadurch den Bewerbungsprozess zur Kulturhauptstadt auf ihre Weise mit. Der Wert kultureller Initiativen und die persönliche Beteiligung daran wird von einem immer größer werden der Teil der Bürgerinnen und Bürger erkannt – langsam, aber dennoch merkbar! Anwachsendes Interesse an einer qualitätsvollen Weiterentwicklung der Stadt im Kulturbereich steht auch im thematischen Fokus einiger Gemeinderäte – das Bewusstsein in diese Richtung wird stärker.

Nach der ersten Phase des jüngst vergangenen „St. Pöltner Aufschwunges“ – verbunden mit der Ernennung zur Landeshauptstadt, dem Neubau des Regierungsviertels und des Kulturbezirkes, der Realisierung des autofreien Rathausplatzes, einhergehend mit dem Entstehen neuer Lokalitäten im Zentrum und den letztlich positiven Auswirkungen der Stilllegung der (lange Zeit in negativer Weise imagegebenden) Glanzstoff-Fabrik – ist mit dem aktuellen Bewerbungsprozess zur europäischen Kulturhauptstadt eine Art „neuer Schub“ bemerkbar und „frischer Wind“ spürbar.

Man ist stolz auf St. Pölten und betont – völlig zurecht – was hier alles möglich geworden ist! Man verweist – legitimer Weise – auf bisher Geleistetes, auf die Vielzahl kultureller Einrichtungen, jongliert mit deren Anzahl und setzt diese in Verhältnis mit der Einwohnerzahl der Stadt. Keine Frage, wie haben uns gut entwickelt und haben vieles zu bieten!

Im Rahmen des gegenwärtig breit geführten, öffentlichen Diskurses treten allerdings auch eine Vielzahl virulenter Problemfelder, schmerzlich an die Oberfläche, denen bis zuletzt kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurden: der große Leerstand und das „Aussterben“ ganzer Straßenzüge in der Innenstadt, die in stilistischer Hinsicht oft wenig feinsinnige und unbedachte Gestaltung des öffentlichen Raumes sowie der Zufahrtsstraßen in die Stadt, der stark ausbaufähige Ensembleschutz in der Altstadt sowie eine fehlende Reglementierung bei Gebäudebeschriftungen sowie Beschilderungen, respektive der Farb- und Materialwahl von Fassadenoberflächen an gestalterisch „nuralgischen“ Punkten – Themen, mit denen sich die öffentliche Hand ganz unmittelbar auseinanderzusetzen hat.

Der eigentlich angemessene, würdevolle und geschmackvolle Umgang mit öffentlichen Plätzen – vor allem im Bereiche der Altstadt, quasi den „Salons“ der Stadt – hat bislang einen grotesken Wildwuchs über sich ergehen lassen müssen, der vor allem im Rahmen von Veranstaltungen zur leidlichen Normalität wurde.

In diesen Bereichen wird in Zukunft große Behutsamkeit, ein hoher Qualitätsanspruch sowie die Zusammenarbeit mit entsprechenden Fachleuten enorm gefragt sein. Da gibt es vieles Aufzuholen!

Die parteipolitisch bedingte Hintanstellung der kulturpolitischen Interessen der Stadt bis hin zum Anfang der 2000er Jahre zeigen teilweise heute noch ihre negativen Auswirkungen, was sich letztlich auch in der quantitativ noch stark ausbaufähigen Kulturberichterstattung der Medienlandschaft der Stadt und der Region widerspiegelt. Kulturell aktive Gruppierungen der Stadt sowie Einzelpersonen sind bis heute kaum vernetzt und haben nur mangelhafte Möglichkeiten, neues potentielles Publikum zu erreichen.

Ehemals fehlender Weitblick in der Städteplanung sowie der bis heute andauernde Abriss vieler interessanter, historischer Gebäude haben schlecht heilbare Wunden in der Stadt verursacht.

Wie gut würde uns allen in diesen Belangen der interessierte und heilsame Blick auf andere europäische Städte tun, die darauf bisher mehr Augenmerk gelegt haben und zu interessanten Lösungen gefunden haben!

Bei allem Engagement von Einzelpersonen, die im Rahmen des Möglichen ihr Bestes geben, fehlt es dennoch an adäquaten Präsentationsmöglichkeiten im Bereich der Bildenden Kunst.

Ein großes, in der Diskussion noch weit gehend unbehandeltes Anliegen wäre, die europaweit herausragende „Historizität“ der Stadt mitzunehmen, sie in der erforderlichen Qualität darzustellen und entsprechend in die Gegenwart hinüberzuführen. Zu erwähnen ist hier auch die weitreichende Ausgrabungstätigkeit am Domplatz und deren Sinn für die Stadt – auch für die Gegenwart. Es drängt sich förmlich auf, dies zu nutzen, öffentlich zu transportieren und in kulturpolitischer Hinsicht zu vermarkten.

Das vormals „erfrorene“ Verhältnis zwischen Stadt St. Pölten und Land Niederösterreich ist merklich aufgetaut und birgt enorme Chancen! Dennoch fehlt es seitens des Landes Niederösterreich immer noch an einem klaren und ausdrücklichen Bekenntnis zur Hauptstadt als kulturelles Zentrum des Landes.

Aktuell bricht vieles auf, tritt ans Tageslicht, wird offensichtlich, wird diskutiert und wird angedacht. Eine hoffnungsvolle Entwicklung!

Es ist mehr als erfreulich, dass der Bewerbungsprozess zur europäischen Kulturhauptstadt kulturell aktive und interessierte Menschen zusammenführt, deren Anliegen zu bündeln versucht, bestehende und neue Potenziale aufspürt aber letztlich auch unangenehme Missstände aufzeigt, an denen es sich gezielt abzuarbeiten gilt.

Nicht alles, was bunt ist, ist Kunst. Nicht alles, was sich öffentlich bemerkbar macht, ist Kultur. Wie viel haben wir da vor uns!!!